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25
Feb
2007

Fin de siècle

Ich gestehe, ich habe einen Hang zur Dekadenz.
Besonders zu derjenigen der Wende zum 20. Jahrhundert.

Wiener Sezession, Jugendstil, Symbolismus, früher Expressionismus, spätromantische und beginnende atonale Musik - dies alles und noch viel mehr war geboten zu dieser Zeit, und die vibrierenden Kunst- und Kulturzirkel zu Wien, Berlin und Paris hätte ich nur allzu gerne selber kennengelernt...

Weil's aber nicht kann sein, las ich, was ich zu dieser Epoche in die Finger bekommen konnte. Machte, anstatt für's Abitur zu pauken, ganz alleine Urlaub in Worpswede. Trieb mich, wann immer reisetechnisch möglich, in den entsprechenden Museen (und Kaffeehäusern!) herum. Klaute eine herabgefallene Rosenblüte von Rilkes Grab. Und bei Mahlers "Lied von der Erde" heulte ich im Konzertsaal Rotz und Wasser, aber das war mir nicht die Bohne peinlich.

Schon lange haben sich meine künstlerischen Vorlieben deutlich in alle möglichen und merkwürdigen Richtungen erweitert, aber ich durfte letztes Jahr in Wien bemerken, daß ich dieser Epoche nach wie vor einiges abgewinnen kann.

Und soeben habe ich mitbekommen, daß die Tagebücher der Fanny zu Reventlow endlich in einer philologisch akzeptablen Neuedition erschienen sind.
Die werde ich mir so bald wie möglich zulegen - und freue mich schon mal im Voraus.

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MMarheinecke - 26. Februar, 11:49

Dekadenz? - Aufbruch!

Ich liebe diese Epoche, die "Frühmoderne", auch. Dekadent waren die höchst unterschiedlichen Künstler, Visonäre und "Macher" des Art Noveau, des Frühexpressionismus, des Symbolismus, auch der "Lebensreform" nicht - im Gegenteil, sie reagierten auf eine selbstgefällige, soziale Misstände großzügig "übersehende" bürgerliche Gesellschaft - und auf den hohlen Pathos und die unübersehbare Einfallslosigkeit, die die "etablierte Kultur" zwischen 1880 und 1914 beherrschte.

Leider wurde die zarte Blüte brutal zertreten, unter den Marschstiefeln des 1. Weltkriegs.
Aber die "neue Kultur" überlebte - verändert, bitterer, reflektierter, aber auch etablierte, in der Gestalt der "klassischen Moderne" - Expressionismus, neue Sachlichkeit, aber auch Art Deco.

Eines der wichtigsten Ziele der Nazis war der Kampf gegen "die Moderne" - gegen die politische Moderne: Internationalismus, Liberalismus, Demokratie, Sozialismus - und auch gegen die kulturelle Moderne.
Den Kampf gegen den Zweig der kulturellen Moderne, der in der Tradion des "Aufbruchs" standen, gewannen sie. "Endsieg" auf der ganzen Linie, weltweit.
Sie gewannen auch, weil viele Lebensreformer und klassich moderne Künstler die Nazis und ihre Steigbügelhalter aktiv und begeistert unterstüzten. Emil Nolde trat sogar jener Partei bei, deren Obere seine Bilder als "entartet" brandmarkten und ihm Malverbot auflegten. Vormalige Lebensreformer arbeiten willig in der SS an der Kulturentwicklung mit. Wenn Mies van der Rohe nicht als "Kulturbolschewik" verpönt gewesen, er hätte an Speers größenwahnsinniger "Umgestaltung" Berlins mitgearbeitet ...

Selbstzerstörung. Auch weil die "Frühmoderne" innerlich vergiftet war, von theosophischer Esoterik, von völkischem Denken, von Industriefeindlichkeit, von Elitedenken, Abneigung Sozialismus bei gleichzeitigem Anti-Kapitalismus.

Der Untergang der Erben des Fin de siècles, der Untergang von Schönheit, Anmut und heiterem Optimismus - er sollte uns Mahnung sein!

Karan - 26. Februar, 13:24

Danke, Martin, daß Du meinen höchst subjektiven nächtlichen Gedanken diese treffende Kontext-Beschreibung beigefügt hast! Besonders der Aspekt der inneren Vergiftung durch völkisches Gedankengut ist sehr wichtig, gerade weil diese Strömungen so räumlich nahe zu ihrem absoluten Gegenteil, dem Kampf für Gleichberechtigung, Freiheit und kosmopolitisches Leben existierten. Die Ästhetik mochte sich gleichen; inhaltlich lagen Welten dazwischen (das vergessen wir heute im Rückblick häufig).

Ja, und was ich "Dekadenz" nannte, wurde freilich nicht von denen so benannt, die sie pflegten, sondern von deren im bürgerlichen Klassenmief verhafteten Gegenspielern, denen jegliche Intensität, insbesondere die des Gefühls, verdächtig erschien.

"Cool" waren sie nämlich nicht, die Frühmodernen... und das ist mir außerordentlich sympathisch.
Londo - 27. Februar, 02:11

Die Lebensreform..

...wurde einmal auf der Mathildenhöhe in einer Ausstellung gewürdigt, dabei kam auch das zur Sprache, das du, Martin, so treffend beschrieben hast: dass viele Lebensreformer (etwa Fidus) willig zu den Nazis überliefen.

Ansonsten gebe ich zu, dass ich auf Jugendstil (z.B. Bad Nauheim oder die Darmstädter Mathildenhöhe *Lokalpatriotismus raushäng :)))* ) und Art Deco (dazu gehört z.B. auch das Empire State Building) rein ästhetisch abfahre. Und von Rilkes Grab hätte ich auch eine Rosenblüte mitgenommen.

MMarheinecke - 27. Februar, 07:13

Da liegen Welten dazwischen

Der "Art Deco" ist ein vortreffliches Beispiel für Karans Aussage: "Die Ästhetik mochte sich gleichen; inhaltlich lagen Welten dazwischen". Wolkenkratzer in einer Abart "ihres" Stil war den Veteranen der Lebenreform nämlich ein Alptraum. Auch die Intensität des Gefühls selbst, die die "Frühmoderne" für sich neu entdeckte, ist ambivalent. Die Anfälligkeit vieler "Frühmoderner" für inhumane Ideologien resultierte meiner Ansicht nach paradoxerweise daraus, dass sie bestimmte Aspekte der "Moderne" nicht nur kritisierten, sondern hassten.("Hass führt auf die dunkle Seite der Macht.")
"Dekadenz" - typischerweise ein Argument totalitärer Denker. Es ist entlarvend, dass z. B. Fidus, dessen Kunst vom damaligen "Establishment" als "kitschig" und "dekadent" abqualifiziert wurde, gerne und oft den Vorwurf der "Dekadenz" erhob - unter anderem gegen Künstler der Moderne, die da weiter machten, wo er in immer versponnenerer Esoterik und der idealisiert-schönen Darstellung nackter junger Menschen stagnierte.

Aber der Schlimmste "Abgrund" der unbürgerlichen Kunst-Rebellen war die Ästhetisierung der Politik. Ohne die Ästhetisierung ist der Faschismus in all seinen Abarten meiner Ansicht nach kaum Verständlich.
baerin - 27. Februar, 22:48

Das ist ja mal absolut treffend...

...gesagt, daß mit dem ästhetischen Aspekt des Faschismus.
Und wo die sich dann letztendlich überall bedient haben - z.B. bei den Farben, Flaggen und Abzeichen haben sie ja auch ganz offensichtlich im russischen Konstruktivismus gewildert.
Aus damaliger Sicht war diese Nazi-Kacke ja richtig stylisch - und dadurch um so verführerischer. Muß man gut aufpassen, daß mensch nicht noch mal so Style-verführt wird...
LG Bärin
First_Dr.Dean - 18. März, 20:49

Eine faszinierende Zeit des Aufbruchs

Wenn Dich die Phase der Wiener Sezession interessiert, kann ich Dir die Tagebücher der Alma Mahler-Werfel wärmstens ans Herz legen, zumal diese hochinteressante Inneneinsichten dieser Phase ermöglichen.

Ich hab die Tagebücher mit großem Interesse gelesen verschlungen, auch, weil wegen der dort eingefangenen Stimmung, und nicht zuletzt, weil diese Menschen in einigen Aspekten, nun, wirklich modern auf mich wirkten.

Gleichzeitig, jedenfalls kommt es mir so vor, zeigt sich für mich in der Person von Alma Mahler-Werfel und ihrer späteren Vorliebe fürs Nazitum, dass der Moderne ohne Humanismus etwas Entscheidendes fehlt.

Karan - 20. März, 10:15

Danke für den Tip, die werde ich mir beschaffen so bald es geht! :-)

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