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17
Jul
2007

Documenta 12

Dort, wo die A7 wie eine Einflugschneise hinunter nach Kassel stürzt, frage ich mich immer, was für eine Stadt das da unten eigentlich ist. Ich kenne sie nur zu Documenta-Zeiten und vermute, daß sie in den dazwischenliegenden vier Jahren ein etwas anderes Gesicht hat, aber das werde ich ein anderes Mal erkunden. Etwas skurril scheint ein Ort, in dem bratwurstbewehrte Polizisten auf motorisierten Sackkarren in halsbrecherischem Tempo durch die Innenstadt düsen, aber durchaus zu sein:

doc12 pol

Auf die nächste Eigentümlichkeit stieß ich beim Blick in einen Brillenladen. Haben die tatsächlich eine Überwachungskamera im Schaufenster? Moment, da sind ja überall Polizisten zu sehen. Und jetzt auch noch der Schäu..., he, Augenblick mal!

doc12 vesper1

Das Bild wurde zum weißen Rauschen und es erschien die Schrift "Diese Aufzeichung wurde irrtümlich gelöscht".

Ein längeres Gespräch im Laden mit dem kreativen Besitzer und Videokünstler enthüllte erquickliche politische Übereinstimmungen und läßt auf Zusammenarbeit bei der Grundgesetz-Aktion hoffen.
Übrigens gibt's dort auch coole Brillen...


Die Documenta selbst hat mich überrascht. So persönlich und gleichzeitig politisch hätte ich sie mir nicht vorgestellt. Ich habe mir die Zeit genommen, mir etliche Video-Installationen anzusehen, die sich im Schnittfeld von Dokumentation und Kunstprojekt bewegen. Am beeindruckendsten fand ich "Them" von Artur Žmiliewski, der Vertreter vierer politisch äußerst unterschiedlicher polnischer Gesellschaftsgruppen in einem Kunst- und Performance-Projekt buchstäblich aufeinander losließ. Mich hätte allerdings interessiert, ob es nach den gestalterischen Eskalationen (bis hin zum gegenseitigen Kunstwerke-Verbrennen!) auch wieder zu irgendwelchen Annäherungen kam, oder ob die Differenzen, wie ich vermute, unüberbrückbar blieben.

doc12 color1

Dieser Durchgang verbindet zwei Installationen von Iñigo Manglano-Ovalle – in der pechschwarzen Dunkelheit im Vordergrund verbirgt sich ein "Phantom Truck", eine bedrückende Interpretation der 2003 von den Amerikanern als "mobile Labors zur Waffenproduktion" bezeichneten irakischen Lkws (die natürlich alles andere als das waren).

Kerry James Marshall zeichnet Black-Power-Comics, erzählt aber auch sehr interessante Liebesgeschichten... ;-)
doc12 two

Schade, daß ich keine ruhige Hand zum Fotografieren ohne Blitzlicht habe! Etliche der schönsten Dinge konnte ich leider nicht im Bild festhalten: die Haar-Stickereien und die in fließende Seidenbanner gebetteten Memorabilien von Hu Xiaoyuan, die "Fears" von Nedko Solakov (Rumstöbern auf seiner "inoffiziellen Webseite" lohnt!), eine Serie von Tuschzeichnungen, vor denen ich immer wieder zwischen haltlosem Lachen und tiefer Beklemmung schwankte, die kirchenfensterartigen schrägen Fotomontagen von Zofia Kulik, die assoziativen Fotoreihen von Luis Jacob...

Ebenso undokumentierbar waren natürlich die Videos, wie James Colemans grandioser Film "Retake with Evidence", dargestellt vom ebenso grandiosen Harvey Keitel, oder die faszinierenden Spurensuchen von Hito Steyerl.

Auf den ersten Blick war Andreas Siekmannsy Beitrag bloß ein buntes Karussell,
doc12 viert0

beim zweiten Hinschauen ein scharfes politisches Statement. Schade, daß sich die interessanten Kontext-Erklärungen nicht lesbar ablichten ließen!

doc12 viert1

Von Ines Doujak gab es wütende Gewächse,

doc12 plant

doc12 ayah2

von Ai Weiwei einladende antike chinesisch Stühle ,

doc12 chinachairs

und von Saâdane Afif Gitarren, die sich selber spielen (interessanterweise genau meine höchsteigene elektrische Gitarre, Epiphone Les Paul Studio, aber ich hab sie in Rot).

doc12 guitar

Der Katalog ist schön produziert, hat aber leider einen entscheidenden Nachteil: er stellt die Exponate nach der Chronologie ihrer Entstehung dar, was an und für sich sehr interessant ist, aber ich hätte mir dann mindestens ein Register gewünscht, an dem abzulesen ist, was wo hängt oder steht. Deshalb konnte ich auch noch nicht feststellen, wer diesen wunderschönen blauen Raum geschaffen hat:

doc12 blue1

doc12 blue2

doc12 blue3

Irgendwann war es dann Zeit für eine (zur Nachahmung wärmstens empfohlene) Sushi-Schlemmerei auf dem Friedrichsplatz, mit Blick über Sanja Ivecovics prächtig blühendes Mohnfeld.

doc 12 poppyfield

doc12 poppy1

Die Documenta 12 erschien mir eine sehr subjektive Schau, die Wert darauf legt, die Exponate nicht nur für sich, sondern auch in einen Kontext zu stellen – etwas, das ja automatisch (und meist unreflektiert) beim Betrachter sowieso passiert. Denn der eigene Blick und die eigene Haltung wirken ja zurück auf das, was man sieht und bestimmen die Wahrnehmung entscheidend.

Ich hätte nicht übel Lust, ein paar Leute dort hinzuschleppen, die sich freiwillig nicht unbedingt moderne Kunst anschauen würden, deren Klarsicht und Interpretationsgabe aber dort gewiß viel Nahrung fänden. Bis zum 23. September ist noch Gelegenheit; mal sehen, was sich ergibt...

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MMarheinecke - 17. Juli, 18:41

Ich hoffe, dass ich auch nach Kassel schaffe

Es scheint eine durchaus lohnende dokumenta geworden zu sein. Mir sind von der letzten dokumenta noch zu viele Selbstinzenierungen zu eitler Selbstdarsteller in Erinnerung. Der sehr viel bessere Eindruck der jetzigen dokumenta kann natürlich an Deiner subjektiven Auswahl liegen - ich muss gestehen, dass ich mich bisher nicht sonderlich mit der diesjährigen dokumenta beschäftigt habe. So sagen mir die Namen der Künstler, die Du in deinem Artikel nennst, überhaupt nichts. Immerhin: da die dokumenta noch eine Weile läuft, habe ich noch Gelegenheit, mich
vorher einigermaßen gründlich in die Materie einzuarbeiten.

Übrigens, auch wenn die Fotos natürlich keinen auch nur annähernden Eindruck des Gezeigten geben: Die Installation, den Du "als wunderschönen blauen Raum" beschreibst, finde ich beeindruckend - denn schon die Fotos lösen bei mir Assoziationen aus, die ich nur als "inneren Horrorfilm" oder "Alptraum im Wachzustand" beschreiben kann. Es würde mich allerhand Überwindung kosten, den Raum zu betreten. Was für das gestalterische Geschick der Künstlerin spricht.

Karan - 17. Juli, 19:13

Hi Martin, ich wünsche Dir von Herzen, daß Du es nach Kassel schaffst, denn es lohnt sich wirklich. Allerdings solltest Du, wenn irgend möglich, zwei Tage veranschlagen; ich bin sehr froh, daß ich das gemacht habe.

Dein Eindruck des "Blauen Zimmers" ist eine feine Bestätigung dessen, was ich oben über Kontext und Wahrnehmung schrieb. Mich hat dieser Raum sehr entspannt, ich setzte mich auf einen der chinesischen Stühle und guckte immer wieder mal durch die blau getönte Scheibe, mal durch das offene Fenster in's Grün, mal auf den roten Teppichboden, mal auf die blauen Schattenfelder. An Wänden und Decke sind übrigens weiß getupfte asiatische Figuren und Muster. Das Ganze wirkte in natura schwebend und leicht auf mich.

Ich würde wirklich gerne wissen, wie Dein Eindruck vor Ort ist, denn die Bilder wirken natürlich auch noch mal verfremdend und sind ausschnitthaft.
MMarheinecke - 17. Juli, 22:38

Ich bin auch mal die Links gefolgt

.. und fand mich in den Installationen Nedko Solakov durchaus wieder - man kann auch sagen: ich habe der Verdacht, dass Solakov ähnlich fühlt wie ich. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich z. B. das hier:
http://nedkosolakov.net/content/new_noahs_ark/index_eng.html
(Ich meine, mit dem in "the story" enthaltenen Kontext.)

ohne hysterischen Anfall überstehen würde. Rein ästhetisch gesehen gefallen mir sie mir überhaupt nicht. Aber das ist egal und war wohl auch nicht Sinn der Sache, etwas "Schönes" herzustellen. Was nur ehrlich und konsequent ist: die Erfahrung lehrt, dass Schönheit meistens nur schöner Schein ist.

Na, ja, nach Kassel fahren, noch eine Übernachtung bezahlen und vielleicht noch in eine guten Sushi-Bar essen - das ist einfach bei mir nicht drin. Es wäre blanke Unvernunft, mir die dokumenta sozusagen von Munde abzusparen.
Karan - 17. Juli, 23:39

Wenn Du's an einem Tag machst, dann verzichte am besten auf Schloß Wilhelmshöhe und den Schlachthof und guck Dir alles andere in der Innenstadt an (Fridericianum, Documenta-Halle, Aue-Pavillion, Neue Galerie); die meisten Sachen sind nämlich dort.
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